Immer, wenn ich mich zurück erinnere, an meine gehörlose Kindheit, empfinde ich gegenüber meiner Mutter eine große und innige Dankbarkeit.
Ihre Hingabe, ihre (fast) unersättliche Geduld mit mir und ihre Herausforderungen an mich…
Meine Gehörlosigkeit wurde erst festgestellt, als ich 9 Monate alt war.
Der Haussprachlehrer (vom Pfalzinstitut für Hörsprachbehinderte in Frankenthal) kam zu uns, um meine Eltern aufzuklären, was sie alles beachten müssen mit ihrem gehörlosen Kind… Der Haussprachlehrer gab meiner Mutter unter anderem den Tipp, mir so früh wie möglich lesen und schreiben beizubringen und mit mir gemeinsam Tagebuch zu führen. Weil ich ja gehörlos bin und somit nichts über das Gehör aufnehmen konnte.
So setzte sie alles dran, dass ich sehr früh lesen und schreiben konnte, da war ich 2 1/2 Jahre alt. Mit 3 Jahren konnte ich lesen und schreiben. Somit konnte meine Mutter mir gleichzeitig besser das Sprechen beibringen. Ich las, las vor und meine Mutter korrigierte mich, wenn ich die Wörter falsch aussprach. Sie achtete immer darauf, dass ich auf ihren Mund schaute und meine Hand auf ihren Hals legte, um diese „Fühl-Töne“ bei mir selbst nachzuahmen beim Sprechen.
Meine Mutter übte tagtäglich mit mir, es wurde zu einem Ritual, auch wenn es für sie nicht immer leicht war und ihr die Nerven kostete. Es war nicht immer einfach mit mir, da ich ein ungeduldiges Kind war und wenn mir einiges nicht auf Anhieb gelang, musste mein Zorn von ihr gebändigt werden. Sie jedoch hielt an dem Ritual fest – mit dem Ziel, dass ich später ein unabhängiger Mensch werde.
Sie forderte mich heraus – tagtäglich! – und ich selbst frage mich heute, wie oft ich selbst sie herausforderte mit meinem Ehrgeiz und in ihrer Geduld mit mir.
Sie ließ auch die hörenden Nachbarskinder zu uns kommen und wir übten gemeinsam die deutsche Sprache. Für die hörenden Nachbarskinder hatte dieser „Daheim-Unterricht“ einen sehr positiven Nebeneffekt: Sie bekamen ein sehr gutes Mundbild. Meine Mutter brachte mir das Sprechen bei und meinen hörenden NachbarsfreundInnen sowie meinen Cousins ein deutliches Mundbild bei.
Als ich in die Schule kam, fing meine Mutter an, mit mir Tagebuch zu schreiben. Ich schrieb ins Tagebuch und meine Mutter korrigierte mich immer. Auf diese Weise brachte sie mir die deutsche Grammatik bei. Meine Mutter und ich gingen meine Tagebuch-Einträge durch – Abend für Abend – und sie erklärte mir, wo ich falsch schrieb und ich verbesserte meine Sätze.
Meine Mutter gab mir Bücher zu lesen, sie verstand sich darauf, die Sprache in den Büchern zum Leben zu bringen. Ich wurde zu einer Leseratte. Seitdem habe ich sehr viele Bücher „verschlungen“ und werde dies auch weiterhin tun. Ich lese die Bücher am liebsten in einem Zug durch, ich lese sehr schnell. Die vielen Übungen dank meiner Mutter 😉 Früh übt sich!
Danke, meine liebe Mama, was sie alles für mich getan hat, damit ich selbstständig und unabhängig wurde. Ich verspüre jedes Mal eine große und innige Dankbarkeit, wenn ich daran denke, was meine Mama für mich so vieles in Kauf nahm!
Die Hommage der Judith Göller ist von einer tiefen Liebe zur Mutter getragen.
Die Hommage strahlt Dankbarkeit und Liebe aus.
In einer solchen Atmosphäre kann das, was wirkliches Menschsein bedeutet, heranreifen –
der Text der Judith Göllner ist ein Symbol für die Liebe zwischen Kindern und Eltern – und dabei tritt in den Hintergrund, ob das Kind ein Handicap hat oder nicht – dann erfährt das Kind: ich bin geliebt – so, wie ich bin.
Mögen alle Kinder diese Liebe erfahren.
Ein warmer, liebevoller Text.
ERICH MEYER (hörend) 15. März 2009