Das Ablesen von den Lippen verlangt vieles, nicht nur die Kombinierfähigkeit, auch das Mitdenken.

Hier möchte ich einige Beispiele aufzeigen.

Kurze, einsilbige Wörter sind zu 90% für sich alleine nicht zu verstehen:

Rot, Ton, Tod, tot, Tor…
Rein, ein, heiß, Ei, eins…

Spricht man nur eines dieser Wörter aus, ist der Gehörlose aufgeschmissen. Verständigung ist unmöglich; ein Ratespiel beginnt, was für ein Wort gesprochen wurde.

Sagt man folgendes zum Gehörlosen: „Ein Auto ist rot“, dann kombiniert der Gehörlose zum Auto das Wort „Ein“ und „Rot“.

Richtig versteht der Gehörlose nur das Wort Auto – der Rest wie „Ein“ und „Rot“ ist Kombination, anhand der Vokale E, I und O.

Im Zusammenhang mit Haus/Fußball versteht der Gehörlose „Tor“.
Im Zusammenhang mit Töpfern/Musik versteht der Gehörlose „Ton“.
Im Zusammenhang mit dem Kochen/Essen/Wetter versteht der Gehörlose „heiß“.

Lange und mehrsilbige Wörter sind einfacher von den Lippen abzulesen als die einsilbigen kurzen Wörter.

Ich hoffe, ich konnte hiermit deutlich aufzeigen, welch eine Leistung ein Gehörloser beim Lippenlesen erbringt. Ich hoffe es sehr!

Wenn ein Hörender beim Reden nuschelt, ist sein Mundbild auch „vernuschelt“ und der Gehörlose hat null Chance, ihn zu verstehen. Beim Mundbild sollen die Vokale A, E, I, O, U deutlich ausgesprochen werden, dabei werden die Konsonanten (d, f, g, k, l, m… usw.) auch gleich mit deutlich ausgesprochen. Damit hilft man dem Gehörlosen enorm, dem Gespräch folgen zu können.

Das Extremste, was mir als Gehörlose widerfährt, ist, wenn ein Hörender seine Lippen beim Sprechen fast gar nicht bewegt. Da kann ich nur noch sagen: „Tut mir Leid, ich kann Sie überhaupt nicht verstehen!“

Auf meinem Heimweg von der Arbeit hielt einmal ein Auto neben mir an, die Beifahrerin sprach mich an – ich verstand sie überhaupt nicht. Aber mit dem Blick auf das Autoschild wusste ich, es sind Fremde, die sich in der Stadt nicht auskennen. Ich sagte ihr, ich bin gehörlos und sie solle bitte deutlich sprechen, damit ich sie verstehen kann.

Diese Frau hatte das schlechteste Mundbild, was mir im Leben je widerfuhr: Sie bewegte ihre Lippen überhaupt nicht beim Sprechen! Ich sah nur die fast zusammengebissenen Zähne hin und wieder bisschen auseinander gehen, die Zunge vor und zurück bewegen, die Lippen selbst bewegten sich nicht (Ich bin keine Zähne-Zunge-Ableserin ;-)! ).

Ich war trotz mehreren Versuchen richtig aufgeschmissen und bat sie, aufzuschreiben, da ich sie überhaupt nicht verstehen konnte. Sie wollte aufgeben und der Fahrer wollte weiterfahren, den Nächsten fragen. Ich sagte zu ihr: „Nur weil ich gehörlos bin, kann ich nicht helfen?? Das stimmt nicht! Schreiben Sie auf, wohin Sie wollen, und ich zeige Ihnen den Weg!“

Sie zuckte zusammen (sie fühlte sich offenbar ertappt) und gab sich die Mühe, Papier und Stift hervorzukramen und das Fahrziel aufzuschreiben. Sie wollten zum Garten-Center Dehner. Ich erklärte ihnen, dass sie in der falschen Richtung fuhren, sie müssen umkehren und immer auf genau dieser Vorfahrtstraße bleiben, bis sie das Gartenhaus Dehner auf der rechten Seite sehen.

Die Frau bedankte sich. Selbst das Wort „Danke“ konnte ich überhaupt nicht von ihren Lippen ablesen! Ich konnte es nur erahnen bei ihrem Verhalten, weil sie aufatmend wirkte.

Daran erkennt man: Die Gehörlosen sind vom Mundbild des Gegenübers abhängig. Es liegt an den Hörenden, ein gutes Mundbild zu machen beim Sprechen, damit der Gehörlose sein Gegenüber verstehen kann.

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