Als gehörloses Kleinkind habe ich die Menschen in zwei Kategorien geteilt: Die mit freundlichen Gesichtern und die mit bösen Gesichtern.
Vor den Menschen mit unfreundlichen Gesichtszügen fürchtete ich mich. Ich war irritiert, als mir gesagt wurde, dass diese trotzdem nicht unfreundlich sind, sie sehen nur so aus.
Mir blieb aber nur diese eine Möglichkeit, die Menschen wahrzunehmen und zwar mit den Augen, also visuell.
In meiner Ausbildung hatte ich einen Chef, bei dem hatte ich erstens die große Schwierigkeit, ihn zu verstehen, er hatte einen Schnurrbart, der ihm über die Oberlippe hinaus, äh, herunter ;-), wuchs. Die zweite große Schwierigkeit war sein maskenhafter (immer gleichbleibender) Gesichtsausdruck. Er sah immer bitterernst aus. Als er meinen Kollegen etwas erzählte und sie alle daraufhin lachten, war ich die einzige, die ernst blieb.
Ich verstand nicht, was daran so lustig war, zumal sein Gesichtsausdruck bitterernst blieb, als er den Witz erzählte. Ich verstand ihn ja auch nicht wegen seinem langen Oberlippen-Schnurrbart.
Was mich total irritierte, war, dass das, was ich in der hörenden Welt visuell wahrnahm, nicht unbedingt der Realität entsprach. Wer böse drein guckte, war nicht unbedingt böse. Wer lieb aussah, war nicht unbedingt lieb. Wer klug aussah, war nicht unbedingt klug, und so weiter: Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen…
Genau nach dem Sprichwort von Goethe:
„Trüget doch oft der Schein! Ich mag dem Äußeren nicht trauen.“